Bondorf in der Ardennenoffensive
Sonntag, 17. Dezember
Seit einigen Tagen lagen amerikanische Soldaten im Dorf. Doch gestern gab’s plötzlich große Aufregung unter ihnen: die Wagen rasten hin und her. Im Land sollen viele deutsche Fallschirmjäger gefangen worden sein. Und heute haben uns alle Amerikaner verlassen. Was ist nur los? Am Abend meldet das Radio: Die Deutschen sind bei Echternach und Vianden über die Grenze gekommen. Wir hoffen, daß die Amerikaner sie wieder zurücktreiben werden.
Montag, 18. Dezember
Überall stehen die Dorfbewohner zusammen. Wie es scheint, rücken die Deutschen schnell vor. Sie sollen schon in Wilwerwiltz sein. Alle Leute packen ein; niemand will hier sein, wenn sie kommen. Gegen Abend rollen Traktoren mit vollgepackten Wagen die Straße hinunter. Es folgen einzelne Autos, vollgestopft mit Menschen und Fahrräder mit Anhängern. Es sind Leute aus Wiltz, die auf der Flucht sind.
Dienstag, 19. Dezember
Schon früh am morgen wimmelt es draußen von Flüchtlingen. Leiterwagen, von einem oder zwei Pferden gezogen, mit älteren Leuten, Frauen und Kindern, mit Kisten und Körben, knarren eilig die Straße hinunter; Fußgänger ziehen mühsam ihren vollbeladenen Handkarren hinter sich her. Sie müssen durch die Strassenrinne gehen, denn die Straße gehört den Autos, den Motorrädern und Traktoren. Manchmal gibt es eine Stockung, so voll sind die Straßen. - Wir stehen ‘um Grippchen’, sehen zu und laufen wieder ins Haus, um einzupacken. Oh, diese Aufregung., diese Angst! Wohin wollen alle diese gehetzten Leute? Sie wissen es selber nicht. Nur weiter, immer weiter! Und wir? - Den ganzen Tag dauert diese Flucht durch das Dorf. Manche Bauern führen auch ihr Vieh mit sich. Gegen Abend fahren die ersten Einwohner von Bauschleiden herunter. Jetzt wird es höchste Zeit, um alles zum Aufbruch bereit zu machen. Die Wagen stehen vor den Häusern und werden mit Stroh, Hafer, Kasten und Koffern beladen. Es wird dunkel. Viele Evakuierte aus Rodershausen, Consthum und Wiltz haben im Dorf Halt gemacht, um etwas auszuruhen. Da fahren amerikanische Panzerwagen mit verdunkelten Lichtern den ‘Knupp’ herunter. Flüchten auch sie vor den Deutschen? Und schon kommt die Nachricht: “Die Deutschen sind in Arsdorf und Bauschleiden.” Hals über Kopf verlassen die Angekommenen das Dorf. Auch die meisten Dorfbewohner spannen eilig die Pferde an die vollgepackten Wagen und fahren mitten in der Nacht davon. Wir packen ein bis 2.30 Uhr morgens. Doch Mutter will nicht mit ins Ungewisse. Noch sind drei Familien aus der Nachbarschaft da. Wie werden diese sich entscheiden? Was geschieht mit dem Vieh in den Ställen, wenn alle fortziehen?
Um 3 Uhr gehen wir schlafen. Es ist eine furchtbare, angstvolle Nacht. Immer noch rollen Wagen durch das Dorf.
Mittwoch, 20. Dezember
Am frühen Morgen sind die Nachbarnunten im Haus und wir beratschlagen. Was tun? Bleiben oder gehen? Drei Familien geben sich das Wort hierzubleiben, und nun kommt man ein wenig zur Ruhe. Von Bauschleiden kommen keine Wagen mehr. Noch einige Bondorfer fahren weg, auch einer unserer Nachbarn. Evakuierte aus Rodershausen bleiben in seinem Haus zurück. Wie still sind die Straßen! Die Fensterläden sind geschlossen. Die Kühe brüllen in den Ställen. - Alle Jungmänner sind fort bis auf meinen Bruder. Wir drängen und drängen, und so fährt auch er am Nachmittag mit dem Fahrrad davon. Bald darauf sind wieder zwei junge Familienväter aus der Nachbarschaft, die gestern fortgegangen waren, zurück. Schade, daß mein Bruder nicht mehr da ist.
Um die Kühe zu beruhigen, füttert ein junger Mann sie; fünf Ställe hat er zu betreuen. Meine Schwester wird die Kühe melken und die Kälber und Schweine mit der Milch füttern. Gegen halb sieben sind wir im gegenüberliegenden Stall. Ganz dunkel ist es draußen. Ein Glück, daß noch elektrisches Licht in den Ställen ist. Gegen sieben Uhr löschen wir das Licht und wollen den Stall verlassen. “Das Haus nicht verlassen!”, tönt es von der Straße. Wie angewurzelt stehen wir da. “Wir wohnen auf der anderen Seite der Straße.” entgegne ich. - “Vor einer halben Stunde dürfen sie nicht gehen, oder wir schießen.” Nun wissen wir Beschscheid, wen wir vor uns haben. Wir ziehen uns zurück in den Stall. Am Morgen war Nachricht von Bauschleiden gekommen, die Deutschen seien da. Sie hätten in den Häusern, wo niemand war, alles gestohlen und zerstört, mit den Dagebliebenen seine sie freundlich gewesen. Plötzlich ein heftiges Pochen an der Tür. Ich öffne. Ein Maschinengewehr schiebt sich zur Tür herein. “Sind Amerikaner da?” Ich verneine. Im Licht der Lampe erkenne ich zwei deutsche Soldaten, bis an die Zähne bewaffnet. Sie gehen wieder. Kurze Zeit darauf sind sie wieder da. Ob wir ihnen Kaffee geben wollten? So dürfen wir endlich heimgehen. Sie essen mit uns und sind froh, warm zu sitzen und etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Und so erzählen sie: Sie sind von Bauschleiden durch den Wald gekommen, waren um 6 Uhr im Dorfe, gingen von Haus zu Haus. Wo man auf ihr Klopfen nicht öffnete, schlugen sie die Türen ein. Sie sind voll Bewunderung für die gute Ausrüstung und die reiche Verpflegung der Amerikaner, auch die guten Sachen, die sie in Luxemburg gefunden hätten: Fleisch, Schmalz, Butter, Eier, Branntwein. Sie hätten keine Verpflegung. Was sie zum Essen brauchten, dürften sie aus den leerstehenden Häusern nehmen. Sie zeigen uns die kleinen Handgranaten, wovon sie die Taschen voll haben. Damit würden sie den ‘Ami’ klein machen, der so schnell Reißaus nehmen würde, daß sie gar nicht mehr folgen könnten. Jeder hat eine Kette Maschinengewehrpatronen umgehängt. Sie zeigen uns ihre Stiefel ohne Sohlen, ihre zerrissenen Hosen.
Sie bedanken sich sehr und gehen. Sie wollen um acht Uhr zurückkommen, um die Nachrichten am Radio zu hören. Draußen werden sie aber dermaßen von ihren Vorgesetzten vermöbelt, weil sie ihren Posten verlassen haben, daß sie das Wiederkommen vergessen. Kurz darauf rollen Fahrzeuge und Panzer 2) durch die Straßen, auch Infanterie marschiert auf. Was soll das noch werden?
Donnerstag, 21. Dezember
Am Morgen hat die Straße ein ganz anderes Gesicht. Überall Deutsche. In den leeren Häusern gehen sie ein und aus. Am Nachmittag ziehen zwei Gruppen Infanterie zum Dorf hinaus.
Sie haben Decken und Lebensmittel auf zweirädrige Wägelchen geladen und tragen schwere Maschinengewehre, Munition, Hacken und Spaten. Eine Gruppe geht die 'Froumicht' hinunter. Einer schiebt einen vollgepackten Kinderwagen vor sich.
Da nun nirgendwo ein Soldat zu sehen ist, gehen wir zusammen in etliche Häuser, wo die Deutschen gehaust haben. Alle Schranktüren sind geöffnet, Schubladen herausgerissen und umgekippt, Konfekt- und Einmachgläser halb geleert. Ein heilloses Durcheinander auf Tischen, Stühlen und auf Böden. Bei einem Geldschrank liegen ein schwerer Schmiedehammer und eine zerfetzte Axt. Aber nachgegeben hat das Ding nicht. Die Katze mußte dafür büßen. Mausetot liegt sie daneben.
Danach finden wir uns wieder beim Füttern in den verlassenen Ställen. Zuwachs haben wir in einem Stall bekommen; ein ganz munteres Kälbchen. Wir geben ihm den Namen seines Herrn.
Am Abend ist das Dorf wieder von Soldaten überschwemmt. Auch vier Panzer, davon ein erbeuteter amerikanischer, sind angekommen. Sie stehen in Deckung hinter den Hausgiebeln.
Freitag, 22. Dezember
Es scheint sich was zusammenzubrauen. Die Soldaten sind aufgeregt. Man hört Kanonendonner, immer häufiger und lauter. Gegen 2 Uhr fahren die Panzer los bis Flatzbour. Ein amerikanischer Panzer und ein Jeep sind dort gemeldet worden. Sie ziehen sich nach einem kurzen Gefecht zurück. Es wird immer brenzliger. Ein Soldat, der bei uns in Quartier liegt, rät uns, diese Nacht nicht zu Bett zu gehen, da es schlimm werden könnte. So schlafen wir, in Decken gewickelt, in der Stube. Draußen fällt Schnee.
Samstag, 23. Dezember
Montag ist Weihnachten. Die Soldaten tragen Zucker, Mehl und Kuchenformen herbei. Sie wollen backen für das Fest. Dennoch herrscht dicke Luft. Wir Zivilisten stehen zusammen, hoffen und bangen. Der deutsche Soldat drängt darauf, den Keller wohnlich zu machen. Wir tragen Decken und Lebensmittel hinunter und machen uns ein Lager aus Stroh zurecht. Es ist abgemacht, daß die drei Flüchtlinge, die im Nachbarhaus wohnen, zu uns in den Keller kommen. Der 'Petter' bringt eine Spitzhacke und ein Brecheisen mit. Man weiß ja nicht, was uns noch bevorsteht.
Gegen 12.30 Uhr fahren die deutschen Panzer vor. So viele Soldaten wie möglich müssen hinauf. Die Angst steht in ihren Gesichtern. Ein junger Soldat, kaum 16 Jahre alt, wälzt sich schreiend auf dem Boden. Nur durch das gute Zureden des Hauptmannes steigt er auf. Die Panzer fahren den 'Kim' hinauf. Wir sind in den Ställen, als in großem Tempo ein deutscher Panzerspähwagen den 'Knupp' hinauffegt. Das ohrenbetäubende Krachen einer berstenden Granate erfüllt die Gasse. Der amerikanische Angriff auf Bondorf hat begonnen.
Wir rennen in den Keller. Einschlag auf Einschlag erfolgt. Wenn es in der Nähe kracht, erzittern die Grundmauern und wir mit. Soldaten kommen ab und zu herein. Sie beruhigen uns: hierherein würde kein Treffer fallen. Die zwei Häuser vor uns würden uns beschützen. Es wird 4 Uhr. Die Kühe beginnen unruhig zu werden. Bei jedem Granateneinschlag springen sie hoch, auch das Pferd. Man hört sie gut, da sie über uns sind.
Gegen 5.30 Uhr wird es ruhiger. "Eine kurze Kampfpause", sagt ein Soldat. Schnell füttern wir das Vieh. Das Pferd will uns nachher nicht aus dem Stall herauslassen; es möchte nicht allein bleiben.
Gehetzt läuft eine Familie die Straße hinunter. Ihr Haus hat einen Volltreffer bekommmen: alle Kühe sind tot, das Pferd ist schwer verletzt. Die Leute eilen in einen anderen Keller.
Wir kochen schnell Kaffee. Kaum sind wir fertig, da beginnt wieder Artilleriebeschuß. Mit einem Satz ist der Nachbar in unserem Hausgang; Schiefer und Bretter tanzen um ihn herum: das Dach der Nachbarställe hat einen Treffer bekommen.
Nun sitzen wir wieder im Keller beim flackernden Kerzenlicht. Wir unterhalten uns, um uns aufzumuntern. Aber draußen wütet der unerbittliche Krieg weiter.
Wir versuchen zu schlafen. Einigen gelingt es; die anderen horchen in die Nacht hinaus, während die Rosenkranzperlen durch ihre zitternden Finger gleiten. Es wird eine sehr lange Nacht. Immer toller folgen die Einschläge. Ganz unheimlich ist es.
Zwei kampfesmüde deutsche Soldaten haben sich entschlossen, die Ankunft der Amerikaner abzuwarten und in die Gefangenschaft zu gehen. Sie kriechen unter ihre Decke und verhalten sich ruhig. Von Zeit zu Zeit geht einer hinauf, um sich über die Lage zu erkundigen.
Sonntag, 24. Dezember
Um 2 Uhr morgens wird das Schießen immer heftiger. Wir zünden die Kerze wieder an. Wir brauchen nicht damit zu sparen, denn so oder so geht es jetzt zu Ende. Unsere Nerven sind aufs Höchste gespannt. Der Mut droht uns zu verlassen. Wenn wir lebendig hier herauskommen, so wird doch das ganze Haus und das ganze Dorf in Schutt und Asche liegen.
Die Abschüsse vor dem Haus schweigen seit geraumer Zeit. Doch die Einschläge verdoppeln sich; man glaaubt, alle würden das Haus treffen. Endlich dringt das Tageslicht zu den Ritzen der Kellerluke herein. Die Kühe beginnen wieder zu brüllen; doch diesmal lassen wir uns nicht erweichen. Über uns ertönt ein Hin- und Herrennen. Durch die Scheune. Beide Tore müssen offen sein; ganz hell ist es oben an der Kellertreppe. Wir verhalten uns mäuschenstill. Wenn es nur keinem einfällt, Schüsse in den Keller abzufeuern!
Nun hört man amerikanische Jagdbomber. Werden sie ihre Last hier abwerfen? Ich denke schauernd an die Bombardierung vom 9. Mai 1944 in Luxemburg, die ich in einem Luftschutzbunker miterlebt hatte. Schon pfeift eine Bombe. Voller Angst erwarte ich ihren Aufschlag. Nun eine zweite... eine dritte... Das Surren entfernt sich. Gott sei Dank, wir leben. 10 Uhr. Die schwere Artillerie schießt seltener, desto wilder knattern die Maschinengewehre. Hinter jedem Giebel muß ein Soldat stehen.Fällt eine Granate, verstummen sogleich die Gewehrschüsse.
Plötzlich hört man draußen vor der Kellerluke ein geheimnisvolles Knacken: langsame, dann schnelle Stöße. Will man das Haus sprengen? Doch die deutschen Soldaten beruhigen uns: es sind die Amerikaner, die Zeichen geben. Gegen 12 Uhr folgt schweres Artilleriefeuer. Mit Schrecken nehmen wir Brandgeruch wahr. "Die Scheune brennt", ist unser erster Gedanke. Schon ist ein Soldat die Treppe hinauf. Nein, bei uns brennt es nicht, aber Rauchschwaden ziehen durch die Straßen.
Noch ist der Kampf nicht zu Ende. In einem fort knattern die Gewehrschüsse. Haus für Haus wird von den Amerikanern durchkämmt. Um 3.30 Uhr heißt es: die Amerikaner sind bis zur Schule vorgestoßen. Wir verlassen alle den Keller und laufen in das Scheunentor, um unsere Retter zu begrüßen. Doch die Soldaten, wild aussehend, mit bärtigen Gesichtern, unheimliches Feuer in den Augen, die Waffe im Anschlag, geben uns Zeichen, drinnen zu bleiben. Es droht ja noch immer Gefahr für sie und für uns. Erschrocken ziehen wir uns in den Keller zurück. Nochmals erleben wir angstvolle Minuten, wie die Amerikaner herumballernd Haus und Scheune nach Deutschen absuchen. Danach wird es ruhiger. Die deutschen Soldaten rüsten sich für die Gefangenschaft. Der eine tut dies zwar zögernd; er meint, der Krieg sei ja doch gleich zu Ende, und er habe Sehnsucht nach seiner Mutter. Er möchte untertauchen. Der andere versucht ihn umzustimmen: "Mach den Leuten keine Unannehmlichkeiten! Du willst doch Amerika kennenlernen." Schliesslich verlassen beide den Keller.
Wie wir dann um 4 Uhr hinausgehen, sind die Amerikaner im Begriff die deutschen Gefangenen, die von überall mit hochgehobenen Armen herbeikommen, auf Waffen zu untersuchen. 60 Mann können es in unserer Straße sein. Dann werden sie abgeführt.
Wir sehen uns um. Im Stubenfenster des Nachbarn erblicken wir die von Entsetzen gezeichneten Gesichter kleiner Kinder und Frauen. Wir erfahren, daß sie zu mehreren aus dem Keller auf das Feld liefen, wobei zwei von Splittern tödlich getroffen wurden.
Die Straße bietet einen erschreckenden, trostlosen Anblick. Überall liegen tote deutsche Soldaten, manche gräßlich zugerichtet. Kühe irren verlassen umher; eine schleppt an der Kette ein Stück Holz vom der Krippe mit. Einige liegen verendet am Boden.
Die Ecke unseres Hauses, sowie die Nachbarhäuser haben Einschläge bekommen. Große Löcher klaffen in den Mauern und Dächern. Die Vorderseite einer Wohnung ist eingestürzt. Wird der zerlöcherte und zerfetzte Kirchturm noch standhalten? Der Boden ist mit Steinen, Schiefer, Latten und Kriegsmaterial bedeckt. Von den elektrischen Masten hängen zerrissene Drähte herab. Oben im Dorf brennt ein Haus. Schauerlich lodern die Flammen in die hereinbrechende Nacht. Ganz ungefährlich ist es noch nicht. Granaten pfeifen vorbei und Abschüsse ertönen aus nächster Nähe. Die wenigen Leute, die hiergeblieben sind, zeigen sich wieder auf der Straße. Allen steht der Schrecken der vergangenen Tage im Gesicht. Jeder weiß was Schlimmeres zu berichten. Und dennoch sind wir alle zufrieden, dass wir es heil überstanden haben.
Und morgen ist Weihnachten...